Das stark unterschätzte System Pflegefamilie

Ein wichtiges Thema mit zu wenig Differenzierung und Verständnis

In den letzten Jahren ist das Thema Pflegekinder immer wieder Gegenstand öffentlicher Diskussionen und Medienberichterstattung. Häufig wird gefragt: „Habt ihr nicht Angst, dass das Pflegekind wieder in die Herkunftssituation zurückgeführt wird und ihr es verliert?“ Diese Frage wird nicht nur von Betroffenen selbst, sondern auch von großen Teilen der Öffentlichkeit gestellt. Der Grund: Ein verzerrtes Bild der Realität, das durch ungenaue und nicht differenzierte Statistiken geprägt wird. Es ist höchste Zeit, über das Thema Pflegekinder aus einer differenzierten Perspektive zu sprechen, um ein besseres Verständnis für die tatsächliche Lebenssituation dieser Kinder und die Rolle von Pflegefamilien zu schaffen.

Aktuelle Statistiksituation: Unklare Zahlen und fehlerhafte Schlüsse

Eine kürzlich veröffentlichte Erhebung des Statistischen Bundesamtes (Destatis) gibt Aufschluss über die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die außerhalb ihrer Herkunftsfamilien untergebracht sind. Laut Daten aus dem Jahr 2023 waren rund 215.000 Kinder und Jugendliche in einer solchen Situation. Etwa 87.000 davon lebten in Pflegefamilien, was im Vergleich zu den Vorjahren einen Anstieg von rund 4% bedeutet. Diese Zahlen werfen auf den ersten Blick ein Bild auf die aktuelle Situation der Pflegekinder in Deutschland.

Bei genauerer Betrachtung wird schnell deutlich, dass die Statistik eine Vielzahl von verschiedenen Bereichen zusammenfasst, die eigentlich getrennt betrachtet werden müssten.

Zu den insgesamt 215.000 Kindern und Jugendlichen zählen nicht nur Pflegekinder, sondern auch Kinder, die in anderen Formen der Kinder- und Jugendhilfe untergebracht sind, sowie minderjährige Flüchtlinge, die aufgrund ihres Alters kürzer in der Jugendhilfe verbleiben.

So ergibt sich ein verzerrtes Bild, das die tatsächliche Verbleibdauer von Pflegekindern in der Pflegefamilie (Vollzeitpflege) nicht widerspiegelt. Die in der Statistik genannte Durchschnittszahl von 2,4 Jahren, erweckt den Eindruck, dass Pflegekinder häufig nur für eine kurze Zeit außerhalb ihrer Herkunftsfamilien untergebracht sind und dann zurückgeführt werden.

In Wirklichkeit wird jedoch nur ein sehr geringer Prozentsatz der Pflegekinder nach dieser Zeit in ihre Herkunftsfamilien zurückgeführt. Eine Studie des Deutschen Jugendinstituts zeigt, dass in der Vollzeitpflege nur ca. 2-3% der Kinder wieder in ihre Ursprungsfamilien zurückkehren. Über 90% der Kinder verbleiben in der Pflegefamilie bis zum Erwachsenwerden.

Das Missverständnis über die Rückführung von Pflegekindern

Warum gibt es in der Gesellschaft dennoch die Überzeugung, dass Pflegekinder häufig in die Herkunftsfamilien zurückgeführt werden?

Der Grund liegt in einer fehlerhaften Wahrnehmung der Situation, die von den genannten Statistiken und ihrer unzureichenden Differenzierung befeuert wird. Tatsächlich ist die Entscheidung zur Unterbringung eines Kindes in einer Pflegefamilie niemals leichtfertig getroffen.

Immer sind Misshandlungen vorausgegangen, sei es in Form von Vernachlässigung, sei es in Form von körperlicher Gewalt, anderen seelischen Misshandlungen oder sexuellen Übergriffen. Diese Erfahrungen hinterlassen tiefe Spuren in der psychischen und physischen Gesundheit der Kinder.

Viele Pflegekinder haben traumatische Erlebnisse hinter sich, die ihre seelische und auch geistige Entwicklung beeinträchtigen. Erkrankungen wie z.B. ADHS, FASD (Fetale Alkoholspektrumstörung) oder die Folgen von Misshandlungen und Vernachlässigung (z.B. PTBS) begleiten sie häufig ein Leben lang. Die Behandlung dieser Kinder erfordert spezielle therapeutische Angebote, die auf ihre individuellen Bedürfnisse abgestimmt sind. Ihre Pflegefamilien spielen dabei eine entscheidende Rolle. Sie bieten nicht nur einen sicheren Lebensraum, sondern fungieren auch als Partner in der psychologischen und therapeutischen Begleitung.

Warum die Differenzierung in der Statistik so wichtig ist

Die nicht differenzierten Zahlen bewirken, dass das System Pflegefamilie in der Gesellschaft meist als Übergangslösung wahrgenommen wird. Die Realität ist eine andere.

In über 90% der Fälle bleiben Pflegekinder in ihren Pflegefamilien, bis zum Erwachsenendasein. Diese Tatsache sollte anerkannt und öffentlich stärker kommuniziert werden. Es ist wichtig, das System der Pflegefamilien als das stabile und langfristige Unterstützungsnetzwerk zu verstehen, das es tatsächlich ist. Das Wissen um diese Zahlen ist entscheidend, um das System Pflegefamilie zukunftsfähig zu machen und um weiterhin Pflegefamilien zu gewinnen, die diese Aufgabe übernehmen.

Deshalb ist eine genauere Datenerhebung in diesem Bereich angezeigt.

Pflegefamilien als wichtige Säule der Jugendhilfe

In Zeiten, in denen Jugendhilfeeinrichtungen zunehmend an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen und Fachkräfte in der Sozialarbeit Mangelware sind, wird die Rolle von Pflegefamilien immer wichtiger.

Pflegefamilien sind besonders für kleinere Kinder unverzichtbar, die in einem familiären Umfeld aufwachsen müssen, um ein Verständnis von Familie und Geborgenheit zu entwickeln. Nur so können sie die Grundlagen für eine gesunde soziale und emotionale Entwicklung erfahren.

Trotz des hohen Bedarfs an Pflegefamilien gibt es immer weniger Menschen, die bereit sind, diese verantwortungsvolle und anstrengende Aufgabe zu übernehmen (ca. 4000). Dies hat verschiedene Ursachen.

Einerseits spielt die veränderte gesellschaftliche Struktur eine Rolle – die meisten Elternteile sind berufstätig oder alleinerziehend und haben wenig Zeit, um sich zusätzlich um ein Pflegekind zu kümmern.

Und selbst wenn das Zusammenwirken von Jugendamt und Pflegefamilie respektvoll und auf Augenhöhe erfolgt, bleibt ein Missverhältnis zwischen den Rechten und Pflichten von Pflegeeltern.

Die Rahmenbedingungen für Pflegefamilien müssen dringend modernisiert werden, damit mehr Menschen bereit sind, Pflegekinder aufzunehmen. Nur so kann das Modell der Pflegefamilie zukunftsfähig gemacht werden.

Fazit: Stärkung des Systems Pflegefamilie dringend notwendig

Das System der Pflegefamilien stellt eine wichtige Säule der Jugendhilfe dar. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass Pflegefamilien neben individuellen Hilfen mit entsprechenden Rechten ausgestattet werden und ausreichend Unterstützung und Entlastung erfahren, die sie bei der Begleitung oft stark verhaltensauffälliger, traumatisierter Kinder benötigen. Hierzu gehört nicht nur eine verbesserte Anerkennung ihrer Leistungen z.B. im Bereich Elternzeit- oder Rentenansprüche, sondern vielmehr auch eine Stärkung ihrer rechtlichen Position in gerichtlichen Verfahren.

Nur wenn Pflegefamilien individuellere Hilfen erhalten, rechtlich gestärkt und in ihrer Gesamtheit als Pflegefamilie (inklusive der leiblichen Kinder) anerkannt und besser geschützt werden, wird es möglich sein, auch in Zukunft Pflegeeltern zu gewinnen, um der wachsenden Nachfrage gerecht zu werden.

Nur durch eine differenzierte Betrachtung der Zahlen und eine ehrliche Diskussion über die realen Chancen, Herausforderungen und Probleme des Pflegefamilienmodells kann es gelingen, das Thema Pflegekinder richtig zu kommunizieren und das System Pflegefamilie zukunftsfähig zu machen.

Kontakt:
Anne Woll
Tel.: 0177-7536359
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